Sistiaga, S. D.: Einige Bemerkungen zu Urteil, Wahrheit und Sein beim Kant der Nova Dilucidatio. In: Ostium, roč. 13, 2017, č. 4.
Some Remarks regarding Judgement, Truth and Being in Kant’s Nova Dilucidatio
This paper intends to shed light on Kant’s conception of judgement as presented in his Nova Dilucidatio. As he will never revise his particular theory of judgment throughout his life, which will become of utmost importance regarding his three Critiques, we maintain that this constant of Kant’s thought predetermines to a large degree his development towards his Transcendental Philosophy. The identification of this core constant of his philosophy allows us to expose the limitations and problems inherent in this specific conception of judgment and thereby to expose the weak point underlying Kant’s thought, showing that a critique of the Critique has to be essentially a critique of Kant’s conception of judgement.
Keywords: Kant, Transcendental Philosophy, Theory of Judgement, Truth, Metaphysics, Leibniz, Crusius, Rousseau, Malebranche
Dieser Artikel stellt einige Beobachtungen zur entscheidenden Funktion des Urteils in Kants Philosophie auf, die dieser bereits 1755 vertrat und welche er nicht nur nie ändern oder infrage stellen sollte, sondern die bereits die Voraussetzungen und Matrix vorgeben, in deren Rahmen Kant auf die Kritik der reinen Vernunft als Untersuchung des Urteils kommen musste. Dazu vergleichen wir kurz Kants in der Nova Dilucidatio angedeutete Wahrheitsauffassung mit jener Leibnizens. Dann distanzieren wir erstere von derjenigen Rousseaus, bevor wir auf Kants Interpretation des principium rationis kommen, welche die Problematik von dessen Denken, das Leibniz, Newton und Malebranche in keine Gleichung zu bringen versteht (doch aber will) aufzeigt und zugleich die ontologisch-metaphysischen Hintergrundannahmen Kants hervorhebt, die gleichsam Ausdruck seines Vorhabens einer Synthese der Metaphysik und der Naturwissenschaften darstellen. Der Artikel stellt dabei nur einige Bemerkungen auf, die zum Weiterdenken anregen sollen. Ausgewickelt und stringent argumentiert dargestellt, findet sich das Thema an anderer Stelle behandelt.[1] Doch nun direkt zu den Dingen.
Bereits aus der Erläuterung der ersten Proposition der Nova Dilucidatio, die besagt, dass es „einen EINZIGEN, unbedingt ersten, allgemeinen Grundsatz für alle Wahrheiten“ nicht gebe, geht eine Ansicht Kants hervor, die für diesen auch noch später von zentraler Bedeutung bleiben sollte. Und zwar nämlich die, wonach Wahrheit immer Funktion eines Urteils sei.[2] Im Kontext der hier behandelten und 1755 veröffentlichten Schrift geht Kant so weit zu behaupten, dass einem affirmativen Urteil ein anderer Typus der Wahrheit zugrunde läge als einem negativen Urteil, weshalb er in dieser Schrift die Wahrheit über die Qualität des Urteils bestimmt betrachtet. Diese Annahme, gepaart mit der Auffassung, dass ein erster Grundsatz einfach sein müsse, sprich nicht aus mehreren Bestandteilen bestehen dürfe, verhindere Kant zufolge die Möglichkeit eines ersten und einzigen Grundsatzes aller Wahrheiten, denn dieser könne aufgrund seiner Einfachheit nie für die Gesamtheit aller Wahrheiten aufkommen, da diese sowohl affirmativer als auch negativer Natur seien und somit mindestens zweier Grundsätze bedürften.[3]
Diese frühe Wahrheitsauffassung Kants weicht in doch entscheidenden Punkten von der leibnizschen ab. Für Leibniz ist etwas wahr, wenn das Prädikat im Subjekt enthalten oder mit diesem identisch ist. Nun ist eine gewisse Form der Identität gleichermaßen bei Kant notwendige Voraussetzung für wahre Urteile; was die analytischen Wahrheiten angeht ohnehin, aber auch betreffend der späteren, synthetischen nicht weniger unerheblich, wo die Suche nach dem (identischen) Einheitsgrund letzterer bekanntlich die Kritik zu beantworten suchen wird. Identität, um etwas vorzugreifen, ist bei Kant allerdings nur hinreichende, nie zureichende, Bedingung, was die Erweiterungsurteile betrifft. Wahrheit selbst hingegen, wie der Text der Nova Dilucidatio zeigt, ist bei Kant im Kontext der Untersuchung der Gesetze „unserer Verstandes“ nur in einem Urteil zu finden, welches die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat bejaht oder verneint, weswegen es bei Kant zwei verschiedene Wahrheitstypen gibt, wo es bei Leibniz nur eine Form der Wahrheit gibt, dafür aber die Methode zwei Weisen der Analyse kennt (finit, infinit).[4] Somit koppelt Kant Wahrheit an das Urteil und damit an ein urteilendes Subjekt. Ohne das bejahende oder verneinende Subjekt gibt es bei Kant keine Wahrheit. Kant verfügt also schon sehr früh über die Überzeugung, wonach Wahrheit ultimativ vom urteilenden Subjekt abhängig sei (wobei das Urteilssubjekt am Ende der Nova Dilucidatio natürlich infiniter Art ist, nämlich Gott).[5] Hiermit ist Wahrheit nicht mehr in der Bestimmtheit der Welt, sondern in der Reflexion über das Urteil über Bestimmungen zu suchen. Ein Bruch, der den Hiatus zwischen Form und Materie oder Schema und Inhalt andeutet, der zugleich die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, Urteilendem und Beurteiltem impliziert, die sich erst mit Kant als Problem definitiv stellte. Die Entkopplung der Wahrheit von den objektiven Bestimmungen des Beurteilten markiert indessen ein grundlegendes Problem Kants, nämlich das des Verhältnisses zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit, das er mit dem Fokus auf das Urteil schafft, da das Urteil dem zu Beurteilendem letztendlich immer äußerlich bleibt, mithin logisch und nicht real, sprich universell, statt individuell oder abstrakt, statt konkret und die genaue Bestimmtheit anzeigend.
Manfred Frank hat diesbezüglich auf den Einfluss Rousseaus bezüglich Kants transzendentaler Deduktion hingewiesen, wo die Kategorien bekanntlich aus den verschiedenen Urteilsformen der Logik abgeleitet werden.[6] Wie sich gezeigt hat, vertritt Kant diese Auffassung schon zu Beginn seiner akademischen Laufbahn, wenn auch sicherlich unter anderen Rahmenbedingungen. Gegenüber Frank, der behauptet, bei Rousseau sei „Wahrheit […] eine Eigenschaft nicht von Gegenständen, sondern von Urteilen“[7], ist allerdings der Text von Rousseau geltend zu machen, der eindeutig sagt: „Je sais seulement que la vérité est dans les choses et non pas dans mon esprit qui juge, et que moins je mets du miens dans les jugemens que j’en porte, plus je suis sûr d’approcher de la vérité […].“[8]
Bei Rousseau ist Wahrheit damit weder abhängig noch Funktion von Urteilen oder Urteilendem. Entscheidende Elemente, wie die aktive Rolle des Subjekts bei der Verbindung von Vorstellungen sowie die Betonung der Frage nach dem Zugang zur Außenwelt und eine damit verbundene Präferenz für die Sinneswahrnehmung, die für den kritischen Kant wichtig werden, sind bei Rousseau also durchaus zu finden – die Auffassung, wonach Wahrheit vom Urteil abhinge allerdings nicht. Zudem bezieht sich Kants Äußerung, die Frank für seine Interpretation in Beschlag nimmt, überhaupt nicht auf Kants Wahrheitsauffassung. Die in den nachgelassenen Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen zu findende Stelle dreht sich um Kants Haltung gegenüber dem „Pöbel“, die durch Rousseau eine dezidiert emanzipatorische Wende erfuhr, weshalb Kant also sagen konnte, Rousseau habe ihn „zurecht gebracht“.[9]
Den Schritt also hin zur Dependenz der Wahrheit vom Urteilssubjekt – der, ex post gesehen, durchaus als entscheidende Weichenstellung hin zu Kants späterem, finiten Subjektivismus (gegenüber dem infiniten der Nova Dilucidatio) gedeutet werden kann – scheint Kant ohne Rousseau gemacht zu haben. Damit aber ist Franks Betonung des rousseau‘schen Einflusses – vor allem in Bezug auf die Deduktion der Kategorien – doch zu revidieren, wenngleich bei Rousseau andere Elemente vorliegen, die Kant später auch weiterdenken wird – nur das entscheidende eben nicht. Zumal Kants Rousseau-Verehrung auf die Mitte der 1760er Jahre zu datieren ist, die prägende und bestimmende Rolle des Urteils aber bereits zur Mitte der 1750er Jahre nachgewiesen ist.[10]
Diesem Urteil muss bei der Interpretation von Kants Texten unbedingt Rechnung getragen werden. Es erweist sich bereits in frühen Texten als Element, bei dem es sich, soweit wir das überblicken, um eine Konstante des kantischen Denkens handelt. In diesem Zusammenhang seien uns noch zwei kleinere allgemeine Bemerkungen zum Urteil bei Kant gestattet, die es als weiteres Schlüsselelement zur Auslegung des kantischen Korpus zu beachten gilt. Fundamentaler als die Trennung zwischen logischem und Realgrund ist die Rolle des Urteils aber nicht, was die Unterteilung des Urteils in zwei Arten eben gemäß dieser Grundunterscheidung Kants betrifft, wie diese, sich auf § 815 von Baumgartens Metaphysica (der über die Perfektion Gottes handelt) beziehende Notiz klar zeigt:
„Alle Urteile sind logisch oder real. Die letzte sind von der Existenz und können, wenn sie die absolute Notwendigkeit betreffen, nicht durch den Satz des Widerspruchs erkannt werden.“[11]
In diesem Lichte betrachtet ist die Kritik Kants an seiner Lesart des ontologischen Beweises, falls es jemals jemand so aufgefasst haben sollte, natürlich mitnichten mit einem Zweifel an der Existenz Gottes verbunden. Ganz im Gegenteil: Weil die Existenz des absolut Notwendigen in ihrer Realität außer allem Zweifel steht, kann der ontologische Beweis nicht funktionieren. Und zwar, genau weil er vermeintlich über das Prinzip vom Widerspruch funktioniert, was nicht so sicher ist. Denn wenn es außerhalb des Absoluten nichts geben kann, dann auch nichts, womit es in ein Widerspruchsverhältnis gesetzt werden kann.
Hier soll der Fokus mehr auf die Rigorosität gelegt werden, mit welcher Kant die crusius‘sche Unterscheidung zwischen „Realgrund“ und „Idealgrund“ in aller Strenge durchdenkt, aber auch, dass er von der Möglichkeit „realer Urteile“ ausgeht, der letztgenannte Begriffskomplex bei näherem Betrachten allerdings recht merkwürdig erscheint.[12] Handelt es sich hierbei um ein Urteil über die Realität? Aber worin läge dann der Unterschied zum bloß logischen Urteil, das als solches ja auch über die Realität (in ihrer Allgemeinheit) urteilen kann? Worin also besteht das Merkmal eines solchen „realen Urteils? Ist es das göttliche, die Realität konstituierende Urteil, also nicht das reflektierende, sondern das bestimmende Urteil – das „Es-Werde“? Die Frage ist hier nicht zu beantworten, soll aber als solche auch nur lediglich den Fokus auf die etwas merkwürdige Funktion des Urteils bei Kant legen, die sich hier bereits Geltung verschafft hat. Die übergeordnete Stellung, die das Urteil bei Kant spielt (man vergleiche nur die Aufteilung von Jäsches Logik mit der Einteilung der Kritik der reinen Vernunft), lässt es uns für angebracht erscheinen, die Definition des Urteils, die Kant in besagter Kompilation gibt, gleichsam als gewissen Wink zunächst einmal lediglich in den Raum zu stellen:
„Ein Urteil ist die Vorstellung der Einheit des Bewußtseins verschiedener Vorstellungen oder die Vorstellung des Verhältnisses derselben, sofern sie einen Begriff ausmachen.“[13]
Das heißt aber, dass Kant, indem er dem Urteil eine konstitutive Funktion zuspricht beziehungsweise diese implizit andeutet, seine Auslegungen immer vor dem Hintergrund eines Bewusstseins, eines Urteilssubjekts, formulieren muss, dessen Gegenstand Vorstellungen ausmachen, was er bekanntlich auch tun wird.[14] Dieser Aspekt mag dem Kenner trivial anmuten, aber oft sind es die einfachen Bestimmungen oder Annahmen, die am schwersten auszumachen sind, weil sie Grund und nicht Oberfläche ausmachen, weswegen wir sie hier hervorheben, zumal Kant ohnehin ein Denker der Abstammung ist, der alles entfalten will, was er von Beginn an in die Prämissen gelegt hat. Neben dem Hinweis auf die Rolle des Urteils, aus dem sich, ex post gesehen, bereits die Limitierung des Gegenstandsbereichs der Erkenntnis (durch Urteile) auf das Phänomenale vorgezeichnet findet, gilt es auf einige ontologische Annahmen, die Kant in der hier besprochenen Schrift zu tätigen scheint, einzugehen.
Die Nova Dilucidatio soll eine kurze Erhellung der drei fundamentalen metaphysischen Grundsätze darstellen: der Prinzipien der Identität, des Widerspruchs und des bestimmenden Grundes, also keine dezidiert ontologische Abhandlung, zumal es in ihr auch um die Frage der Vereinbarkeit eines metaphysischen Weltsystems und menschlicher Freiheit geht. Im Zuge der hiesigen Beobachtungen reicht es aus, auf Kants Annahme zu verweisen, dass es mehrere Substanzen geben müsse.
Im dritten und letzten Abschnitt der Nova Dilucidatio führt Kant, seinen eigenen Worten zufolge, „zwei neue Grundsätze […] nicht unbeachtlicher Bedeutung für die metaphysische Erkenntnis“[15] ein: Den „Satz der Aufeinanderfolge“ und den „Satz des Zugleichseins“, mit denen er, so Rosenkranz, dem Satz des Grundes eine „größere Bestimmtheit und Fruchtbarkeit zu geben suchte“[16]. Ersterer lautet wie folgt: „Substanzen können eine Veränderung nur erfahren, sofern sie mit anderen verknüpft sind; ihre wechselseitige Abhängigkeit bestimmt die beiderseitige Veränderung des Zustandes.“[17] Da das Hauptaugenmerk hier nicht auf einem Vergleich der Gemeinsamkeiten und Differenzen des frühen Kant mit Leibniz liegt, sei auch nur kursorisch darauf hingewiesen, dass Kants offensichtlich gegen Leibniz’ Monadologie gerichtetes Argument nur unter der Voraussetzung der Annahme einer absoluten Zeit im Verbund mit einer Vielheit sich reziprok beeinflussenden Substanzen gedacht werden kann, mithin unter bereits für sich recht voraussetzungsvollen Prämissen.
Nur ist Kants Argument ganz unabhängig von etwaigen Vorannahmen als solches überhaupt nicht praktikabel. Die interne Bestimmtheit der Monaden, die keine externe Form der Determination erlaube, führe, so Kant, zu Widersprüchen respektive der verschiedenen monadischen Bestimmungen, da eine spätere und partielle Neubestimmung dieser nur im teilweisen Widerspruch zu ihrer vorherigen Bestimmtheit stehen würde. Deshalb müsse die Veränderung von außen und damit von einer anderen Substanz herkommen.[18] Nun weiß aber Kant selbst, dass Widersprüchlichkeit nur bei Gleichzeitigkeit gegeben ist, weshalb es zwischen zwei aufeinanderfolgenden Zeitpunkten keinen Widerspruch geben kann, womit das Argument natürlich als Randnotiz zur Seite gelegt werden muss.
An dieser Stelle ist es unabdingbar, sich die schon erwähnte Wahrheitstheorie Leibnizens in Erinnerung zu rufen, denn die Theorie der fensterlosen Monaden, die in keinem kausalen Zusammenhang miteinander stehen, ist eine Folge der leibnizschen Wahrheitstheorie (die allerdings selbst wiederrum auf seinen metaphysischen Annahmen basiert), wonach Wahrheit im Enthaltensein des Prädikats im Subjekt besteht und weshalb die Monaden nur aus einem internen oder immanenten Grund zur Veränderung bestimmt werden können. Denn wie die klassische aristotelische Logik besagt, auf deren Boden sowohl Kant als auch Leibniz argumentieren, kann man keine Substanz von einer anderen Substanz prädizieren (sofern diese eben nicht identisch sind – versteht sich).[19]
Kants Beharren auf dem Phänomen der Zeit oder der Veränderbarkeit – worin sich gewiss seine naturwissenschaftlich-empiristische Ader ausdrückt – zwingt ihn deshalb dazu, nicht nur mit Leibniz und gegen Spinoza einen Substanzenpluralismus (für Spinoza wäre allein der Begriff Ausdruck dessen, was Kant später ein „intellektuiertes Phaenomenon“ zu nennen pflegte[20]) anzunehmen, sondern auch ferner, gegen Leibniz die Möglichkeit einer intersubstanziellen Beeinflussbarkeit zu postulieren. Daraus ergibt sich als Konsequenz, dass Kant, was den Bereich der Realität im Gegensatz zum Bereich der Logik angeht, unmöglich an der leibnizschen Wahrheitstheorie festhalten kann.
Doch zurück zu Kants in der Nova Dilucidatio eingeführten „Grundsätze[n] metaphysischer Erkenntnis […], die aus dem Satz des bestimmenden Grundes fliessen“, hier zu dem der „Folge“.[21] Interessanterweise versucht Kant zu zeigen, dass der Satz der Folge, nach dem jeder Grund eine Folge haben müsse, nicht aus dem Satz des bestimmenden Grundes abgeleitet werden könne – zumindest was Seinsgründe angeht (für Erkenntnisgründe lässt er diesen Satz gelten).[22] Zunächst lässt Kant nur anklingen, warum dies der Fall sei. Und zwar aufgrund der Unveränderlichkeit der Substanzen, die eine „Fruchtbarkeit ins Unendliche“ nicht gestatte.[23] Wie die Ausführungen zum „Satz des Zugleichseins“ darlegen, meint Kant damit nichts anderes, als dass die Unmöglichkeit der intersubstanziellen Beeinflussung es verhindere, dass aus einer Ursache eine Folge folgen könne, mit der Substanz A Substanz B verändere. Die Beeinflussung werde nur durch eine Verbindung (Synthese würde er später sagen) im Verstand Gottes ermöglicht. Dieser okkasionalistische Ansatz in Kants Theorie der Beziehung zwischen Substanzen und Gott ist daher auch der Grund, warum er den Satz der Folge verneinen muss. Zwei Punkte müssen hier festgehalten werden. Erstens: Zunächst mag es unerheblich erscheinen, ob man das Prinzip vom Grund, wie in der Regel üblich, im Anschluss an Descartes und Leibniz so formuliert, dass man vom Gegebenen auf eine Ursache oder Grund schließt, oder ob man vom Grund her die Folge denkt, so wie man dies bei Spinoza, vorzüglich in dessen Ethik, artikuliert, aber vor allem auch durchexerziert sieht.[24]
Abgesehen davon, dass Kant das Prinzip der Folge wegen seines Substanzpluralismus nicht oder nur eingeschränkt akzeptieren kann, ist es doch nicht leicht zu sehen, wie man das Prinzip vom Grund affirmieren kann und dabei gleichzeitig die Formulierung, die seiner Bedeutung am ehesten gerecht wird, indem die Priorität des Grundes vor der Folge gewahrt wird, negieren kann. Beginnt man hingegen bei der Folge, mag es kein Zufall sein, dass allein schon die Priorisierung des Erkenntnisgrundes, als dem, das zuerst gegeben oder zugänglich ist, gegenüber dem eigentlichen Grund (hier auf das Erkenntnisverhältnis gerichtet), dazu führen oder verführen kann, den Realgrund oder den ontologisch vorrangigen Grund zu vernachlässigen, bzw. vom Erkenntnisgrund abzuschneiden, zumal der vorgängige Grund eben nicht gegeben ist und auf ihn nur geschlossen werden kann, obwohl er doch der Folge Grund ist.[25] Im nach-folgenden Zitat sehen wir die Kombination der Implikationen des Substanzenpluralismus, konfrontiert mit der Wahrheitstheorie des Königsbergers, der Wahrheit als Ergebnis eines Urteils auffasst, am Werke (hier eines unendlichen Verstandes):
„Da alle Substanzen, sofern sie in demselben Raum befaßt sind, in einer wechselseitigen Gemeinschaft stehen, so kann man von daher die wechselseitige Abhängigkeit in Bestimmungen, die allgemeine Wirkung der Geister auf die Körper und der Körper auf die Geister verstehen. Aber weil keine Substanz das Vermögen hat, andere von ihr verschiedene durch dasjenige, was ihr selbst innerlich zukommt, zu bestimmen (wie bewiesen wurde), sondern dies nur kraft der Verknüpfung geschieht, durch die sie in der Vorstellung des unendlichen Wesens verbunden sein dürften, beziehen sich zwar alle Bestimmungen und Veränderungen, die in jeder beliebigen angetroffen werden, immer auf Äußeres, aber der eigentliche sogenannte physische Einfluss ist ausgeschlossen, und es besteht eine allgemeine Harmonie der Dinge. Aber dennoch entsteht daraus nicht jene vorherbestimmte des Leibniz […].“[26]
Weit ist Kant also, was das Programm der Synthese zwischen, plakativ gesprochen, Newton und Leibniz, den Naturwissenschaften und der Metaphysik, nicht gekommen.[27] Durch die gemeinsame Verortung der Substanzen im Raum bestünde zwar eine „wechselseitige Gemeinschaft“, die aber aufgrund der Autonomie selbiger allerdings keinen „physischen Einfluss“ (influxus physicus) aufeinander haben können, weshalb sie letztlich eben nicht in Gemeinschaft stehen, sondern in der „Vorstellung eines unendlichen Wesens verbunden sein dürften“.
Kant, der den Konjunktiv selten verwendet, steht am Ende der „Neuen Erhellung“ – die vielmehr eine Entwicklung der Problematik ist, der sich Kant im Folgenden zuwenden wird – also selbst ein wenig im Dunkeln. Hier scheint der „physische Einfluss“ zwar „ausgeschlossen“, aber dass es ihn nach Ansicht Kants geben muss, steht außer Frage, worauf auch das „dürfte“ hindeutet, das der Alternativlösung eine gewisse Dürftigkeit attestiert. Kant ist überzeugt, dass es den Einfluss gibt, nur kann er ihn im Rahmen des Leibnizianismus natürlich nicht denken. Dass er dabei an der Auffassung festhält, derzufolge es mehrere Substanzen geben kann, denen, ganz der klassischen Bestimmung nach, Autonomie zukommen müsse, es also eine Autonomie auch des Geschöpften geben müsse, wird Kants Suche nach dem Realgrund, dem metaphysischen Prinzip des influxus physicus, nachhaltig vorherbestimmen.
In diesem Sinne konnte Kant eigentlich auch nur auf die Frage des letzten Realgrundes aller Dinge kommen: Gott. Nicht nur, weil jeder Realgrund am Ende auf Gott zurückgeführt werden muss, sondern auch, weil der Akt der Schöpfung schlechthin der Akt der Realverursachung ist, Kant sich diesen womöglich als Akt des Intellekts vorgestellt hat, wie obige Passage andeutet, also als Akt des bestimmenden, nicht des reflektierenden Urteils, ist die Beschäftigung mit der Gottesfrage nur konsequent, wenn es um die Suche nach einem Einheitsgrund der Metaphysik und der Wissenschaften geht. Die Vermutung liegt nahe, dass Kant im Akt der göttlichen Schöpfung das Muster sieht, aus dem per Analogie womöglich eine Erklärung für die finite Realverursachung zu ziehen sei. Um den physischen Einfluss, den Möglichkeitsgrund des influxus zu erkunden, wird Kant der Frage nach der Beziehung zwischen dem Grund aller Möglichkeit und der Wirklichkeit in seiner nächsten Schrift, dem Beweisgrund nachgehen, denn der physische innerweltliche Einfluss muss aus Gott stammen, in ihm begründet sein, weshalb in den Spuren desselben der Forschungsgrund zur Genetik der Kausalität liegen muss.
Allein weil es die Schöpfung gibt, muss es Verursachung geben. Kant weiß, was es alles geben muss. Nur, wie diese Intuitionen zu begründen sind, das weiß er nicht und wird es nie wissen. Hieraus resultiert wohl die Unzufriedenheit, die das Denken vor Kants regulativen Idealen überkommt. Versucht hat er es bis an sein Lebensende, wie das Opus postumum zeigt.[28] In der Forschung scheint Konsens zu herrschen, dass er dort an den hier aufgeworfenen Fragen der sogenannten „vorkritischen“ Periode wieder anknüpft, was letztlich nur noch deutlicher den rein negativen Charakter des Kritizismus aufzeigt, beziehungsweise, dass die Kritik nie den Endpunkt der Metaphysik, sondern ihren Anfangspunkt markieren sollte, was allzu oft vergessen wird.[29]
Schließlich bleibt Kant freilich eine Begründung schuldig, warum Fragen nach dem Sein, Gott, der Realverursachung, Zeit und Raum gerade über den nicht eingehend gerechtfertigten Fokus auf das Urteil und den Akt des Urteilens zu beantworten sind, warum also gerade die Untersuchung des Urteils eine Antwort auf Fragen bereithalten kann, die ihrem Gehalt nach meist auf das Beurteilte abzielen? Dass sich dann gerade in der berühmten Kritik der reinen Vernunft als Urteil über das Urteilen keine eigentlichen Urteile über das jenseits des Beurteilungsvorgangs liegende finden, sondern vielmehr ihr Verbot, wundert wenig, denn der Akt des Urteilens ist dem Beurteiltem äußerlich. Die Eigenschaften des Urteils liegen in diesem selbst. Das Urteil ist wahr, ob affirmativ oder negativ, sofern es als in der Reflexion über sich selbst mit sich als bejahend oder verneinend übereinstimmt. Der Formalismus Kants stammt aus seiner heuristischen Präferenz des Urteils, die nicht nur das zu Beurteilende zur leeren Unbestimmtheit verdammen wird (das Ding an sich), sondern auch den Urteilenden, der bloß unbestimmbares Substrat des Urteils sein wird. Daher gilt es bezüglich Kant über das Urteil an sich zu urteilen.
B i b l i o g r a p h i e
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B e m e r k u n g e n
[1] Dieser Artikel beruht auf einem Kapitel meiner Dissertation, deren Veröffentlichung in Vorbereitung ist: SISTIAGA, S. D.: Das Prinzip vom Grund bei Kant und Meillassoux. Über Anfangs- und Ungründe des post-metaphysischen Denken. Univerzita Karlova, 2017.
[2] Vgl. KANT, I.: Neue Erhellung der ersten Grundsätze metaphysischer Erkenntnis. In: WEISCHEDEL, W. (Hrsg.): Vorkritische Schriften bis 1768. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2005. Werke in sechs Bänden, Bd. 1, S. 409 [Hervorhebung im Original].
[3] Vgl. ebd. S. 409 – 411.
[4] Ebd., S. 421: „Wir stellen vielmehr, da es zwei Arten von Wahrheiten gibt, für diese zwei auch einen bejahenden und einen verneinenden ersten Grundsatz auf.“ Aufgrund der Wichtigkeit der Aussage zitieren wir das Original: „Postremo propositioni negativä potissimum in regione veritatum primas demandare et omnium caput ac firmamentum salutare, quis est, cui non duriusculum et aliquanto etiam peius quam paradoxon videatur, cum non pateat, cur negativa veritas prä affirmativa hoc iure potita sit? Nos potius, cum sint bina veritatum genera, bina ipsis etiam statuimus principia prima, alterum affirmans, alterum negans (PND, AA 01: 391.11-16).“
[5] Vgl. LONGUENESSE, B.: Kant’s Deconstruction of the Principle of Sufficient Reason. In: The Harvard Review of Philosophy. 2001, Bd. 9, Nr. 1, S. 70.
[6] FRANK, M.: Kants Grundgedanke. In: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007, S. 181 – 182: „Auf die Grundeinsicht seiner transzendentalen Deduktion ist Kant nicht von selbst gekommen. Er verdankte sie […] dem Savoyardischen Vikar von Rousseau […]. Vielleicht dachte Kant auch an dieses Stück, als er schrieb: «Rousseau hat mich zurecht gebracht» (AA XX, 44 [Frank verweist hier auf: BRANDT, R.: Rousseau und Kant. In: KERVEGAN, J.-F., MOHNHAUPT, H. (Hrsg.): Wechselseitige Beeinflussungen und Rezeptionen von Recht und Philosophie in Deutschland und Frankreich. Influences et réceptions mutuelles du droit et de la philosophie en France et en Allemagne. Drittes deutsch-französisches Symposion vom September 1999 in La Bussière/Dijon. Frankfurt am Main: Klostermann 2001]).“
[7] Vgl. FRANK, M.: Kants Grundgedanke, S. 174.
[8] ROUSSEAU, J.-J.: Profession de foi du Vicaire savoyard. Paris: Folio 2010, S. 409 [Paginierung nach der Ausgabe der Émile im Folio-Verlag: ROUSSEAU, J.-J. Émile ou De l’éducation. Paris: Folio 1995].
[9] GSE, AA 02: 44: „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den gantzen Durst nach Erkentnis u. die begierige Unruhe darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bey jedem Erwerb. Es war eine Zeit da ich glaubte dieses allein könnte die Ehre der Menschheit machen u. ich verachtete den Pöbel der von nichts weis. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendende Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren u. ich würde mich unnützer finden wie den gemeinen Arbeiter wenn ich nicht glaubete daß die Betrachtung allen übrigen einen Werth ertheilen könne, die rechte der Menschheit herzustellen [Hervorhebung im Original].“
[10] IRRLITZ, G.: Kant Handbuch: Leben und Werk. Stuttgart: J. B. Metzler 2015, S. 32: „In der Mitte der 60er Jahre trieb Kant mit Rousseau fast einen Kult (für weiterführende Literaturhinweise, siehe ebd.).“
[11] Refl. AA 17: 302, R 3814, Datierung bei Adickes unsicher (womöglich 1764 – 1768).
[12] CRUSIUS, C. A.: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten, wiefern sie den zufälligen entgegen gesetzet werden, die dritte und vermehrte Auflage. Leipzig: Johan Friedrich Gleditsch 1766, S. 52 – 53, § 34: „Alles dasjenige, was etwas anderes ganz oder zum Theil hervor bringt, […] heißt Grund oder Ursache im weiten Verstande (principium, ratio). […] Nemlich dasjenige, was man das gegründete nennet, und dessen Hervorbringung man einem anderen zuschreibet, ist entweder nur in die Erkenntnis im Verstande, oder es ist die Sache außerhalb der Gedanke selbst. Daher ist der Grund entweder ein Erkenntnisgrund, welcher auch ein Idealgrund heißen kann, (principium cognoscendi); oder ein Realgrund (principium effendi vel fiendi). Ein Erkenntnisgrund ist, welcher die Erkenntnis einer Sache mit Überzeugung hervor bringt und also betrachtet wird. Ein Realgrund ist, welcher die Sache selbst außerhalb den Gedanken ganz oder zum Theil hervorbringet oder möglich macht [Hervorhebung im Original].“
[13] Log, AA 09: 101.
[14] Die konstituierende, schöpferische Kraft des Urteils aber wird sich erst von Kants Nachfolgern, zum Beispiel in diesem Satz Hölderlins, der zu dieser Zeit sehr stark von Fichte beinflusst war, klar und unzweifelhaft auf den Punkt gebracht: „Seyn – drükt die Verbindung des Subjects und Objects aus (HÖLDERLIN, F.: „Urtheil und Seyn“. In: Sämtliche Werke, Bd. 4, Der Tod des Empedokles, Aufsätze, hg. von Friedrich Beißner. Stuttgart: Cotta, 1962, S. 216 – 217.).“
[15] KANT, I.: Neue Erhellung, S. 407.
[16] ROSENKRANZ, K.: Geschichte der Kant’schen Philosophie. Hrsg. v. Steffen Dietzsch. Berlin: Akademie-Verlag 1987, S. 117.
[17] KANT, I.: Neue Erhellung, S. 489; PND, AA 01: 410.18-20: „Nulla substantiis accidere potest mutatio, nisi quatenus cum aliis connexae sunt, quarum dependentia reciproca mutuam status mutationem determinat.“
[18] Kants „Beweis“ geht so: „Angenommen, eine einfache Substanz sei, aus der Verknüpfung mit anderen gelöst, für sich allein da; so sage ich, daß es für sie keine Veränderung ihres inneren Zustandes geben kann. Denn da die inneren Bestimmungen, die der Substanz schon zukommen, durch innere Gründe gesetzt sind, so muß man, wenn man eine andere Bestimmung hinzutreten lassen will, auch einen anderen Grund setzen, aber da in den inneren sein Gegenteil liegt und nach der Voraussetzung kein äußerer Grund hinzukommt, ergibt sich offensichtlich, daß er jenem Seienden nicht beigelegt werden kann. Dasselbe auf andere Art. Alles, was durch einen bestimmenden Grund gesetzt wird, das muß zugleich mit ihm gesetzt sein; denn daß das Begründete nicht gesetzt sei, wenn der bestimmende Grund gesetzt ist, ist ungereimt. Demnach muß mit allem dem, was in einem Zustand einer einfachen Substanz bestimmend ist, schlechtin alles Bestimmte zugleich sein. Weil aber Veränderung die Aufeinanderfolge von Bestimmungen ist, oder dort ist, wo eine Bestimmung entsteht, die vorher nicht gewesen ist, und folglich das Seiende zum Gegenteil einer ihm selbst zukommenden Bestimmung bestimmt wird, kann sie nicht durch das geschehen, was sich in der Substanz innerlich findet. Wenn sie also geschieht, muß sie aus einer äußeren Verknüpfung hervorgehen (KANT, I.: Neue Erhellung, S. 489 – 491.”) [Hervorhebung im Original].”
[19] Vgl. Arist. Cat., De int.
[20] Vgl. KANT, I.: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, § 24.
[21] Vgl. KANT, I.: Neue Erhellung, S. 489.
[22] Vgl. KANT, I.: Neue Erhellung, S. 483.
[23] Vgl. ebd.
[24] Vgl. SPINOZA, B.: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch – Deutsch. Übers. u. hrsg. v. Wolfgang Bartuschat. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2015.
[25] Graham Harman sieht das Proprium der nachkantischen Philosophie denn auch nicht so sehr im Korrelationismus, sondern in der Frage des Zugangs: „Most recent philosophy in the continental tradition can safely be described as a Philosophy of Access to the world. Concurring with the spirit of Žižek’s principle that “Kant was the first philosopher,” it assumes that the human-world gap is the privileged site of all rigorous philosophy. This remains true even when (or especially when) it denies any unbridgeable gap between these two poles, making them mutually co-determining (HARMAN, G.: The Quadruple Object. Zero Books 2011, Kap. Speculative Realism).
[26] KANT, I.: Neue Erhellung, S. 505.
[27] Vgl. SCHÖNFELD, M.: The Philosophy of the Young Kant: The Precritical Project. New York: Oxford University Press 2000, S. 10 – 14.
[28] OP AA 21 u. 22.
[29] Vgl. IRRLITZ, G.: Kant Handbuch, S. 471 – 476.
Sergey David Sistiaga, M.A.
Univerzita Karlova
Fakulta humanitních studií
E-Mail: sergeydavidsistiaga@posteo.de